Spirituelle Bildung und Humanität

„Der Mensch ist befähigt und berufen zu einem großen Bewusstsein seiner selbst und zu dessen Verwirklichung. Nur muss er ernst machen mit der Wahrheit, dass er allein eben nicht Mensch ist. Gott gehört in die Definition des Menschen.“ ‒ Dies Wort von Alfred Delp (†1945) ist im Dunkel seiner Zeit gesprochen. Es ist mutiger Widerstand gegen den Ungeist nationalsozialistischer Diktatur, leuchtendes Zeugnis für eine Humanität aus christlichem Glaubensgeist. Neue Formen der Gewaltherrschaft, Manipulation, des Antisemitismus, Kulturkampfes und Verfolgung stellen unsere Geisteshaltung auf die Probe, fordern ethische Entschiedenheit, Bekenntnis zu Glaube und Gerechtigkeit. Wir stehen vor der dringlichen Aufgabe, uns bewusster auf unsere geistigen Wurzeln von Humanität und Demokratie zu besinnen. Sonst ist populistischen Ideologien, Fundamentalismus und Terror in Gesellschaft und Religion, welche die universale Menschenwürde nicht respektieren, leichtfertig Tür und Tor geöffnet.

Die „Definition des Menschen“ scheint überhaupt durch neue Technologien relativiert. Es beginnen bisher natürliche Grenzen zu verschwimmen. Digitalisierung, Biotechnologie, Künstliche Intelligenz lassen zukünftig Mischwesen aus Organismus und Maschine denkbar werden. C.S. Lewis (†1963) hatte bereits während des Zweiten Weltkriegs die „Abschaffung des menschlichen Menschen“ prophezeit. Gewinnt eine Art faktischer Transhumanismus Macht über uns? Eines ist gewiss, Technologie ohne ethische Verantwortung mutiert leicht zur Diktatur, Verantwortung ohne geistige Werte ist gefährlicher Opportunismus. Wachsende technische Naturbeherrschung, Reichweite komplexer Kausalketten stellen den Menschen in eine radikale Verantwortlichkeit, welche ihn ohne geistige Orientierung zu überfordern droht. Wo soll ethische Motivation, innerer Halt herkommen, wenn viele Menschen kaum oder gar nicht in Kontakt mit unserer spirituellen, religiösen, ethischen Tradition stehen. Dass Weltverschwörungsphantasien, Identitätsstörungen, Zukunftsängste um sich greifen wundert nicht.

Genügt bloß eine Ethikvermittlung ohne Transzendenz? Ohne ein Mindestmaß an »Spiritueller Bildung« wird im Durchschnitt das nötige Wertebewusstsein und die geistliche Unterscheidungsfähigkeit fehlen, um gegen ideologische Verführungen, falschen Zeitgeist innerlich gerüstet zu sein. Ethische Gesinnung ist auch ohne spirituelles Fundament, außerhalb religiöser Tradition möglich, jedoch meist psychologisch und didaktisch schwieriger zu verwirklichen. Es fehlt dann die tragende Glaubensgemeinschaft, Einbettung der Ethik in ein geistliches Leben. Spirituelle Werte wie Innerlichkeit, Gerechtsein, Hoffnung, Liebe, Selbstlosigkeit, Gewaltverzicht, Gelassenheit, Solidarität, Zweckfreiheit, Sammlung, Erleuchtung usf. geben existentiell Orientierung und Schutz. Sie vermitteln dem Menschen eine bewusste Ausrichtung auf das spirituelle Ziel seiner Existenz: Verbindung, Einssein mit dem „Geheimnis unseres Lebens, das wir ›Gott‹ nennen“ (K. Rahner).

Alle Kraft zur Erneuerung in Kirche und Gesellschaft erwächst aus dem lebendigen Kontakt mit unseren geistigen Quellen. Einzelne Reformideen bedeuten noch kein menschliches Wachstum. Sie können die persönliche Transzendenzerfahrung, das motivierende Werterleben nicht ersetzen. Spirituelle, ethische und kulturelle Werte werden erst fruchtbar, wenn jede Generation sie sich innerlich neu aneignet. Von daher ist »Spirituelle Bildung« als Grundlage einer humanen Gesellschaft und Motivation ethischen Handelns ein Gebot der Stunde. Kulturwerte, Allgemeinbildung, Fachwissen, so wertvoll sie auch für sich betrachtet sein mögen, drohen ohne bewussten Transzendenzbezug selbst Entfremdung und Verzweckung für ideologische Ziele. Es fehlt dem Menschen sonst die innere Kraft zum Guten, bestärkende Hoffnungsperspektive, der motivierende Sinnhorizont seiner Existenz, die Fähigkeit zu einem selbstgesetzten Verzicht zum Wohle aller.

„Gott gehört in die Definition des Menschen“ (A. Delp) besagt, dass der Mensch ohne Gott die geistige Würde seines Menschseins nicht voll entfalten, auf Dauer aus eigener Kraft nicht ein humaner Mensch bleiben kann. Ihm fehlt im bloßen Selbstbezug das spirituelle Energiefeld, der geistige Rückhalt im Göttlichen, um seine Talente in rechter Weise zu entfalten und einzusetzen. Gott ist die Fülle alles Wahren, Gerechten und Guten, sein Geist zugleich die motivierende Kraft dazu. Der Mensch vermag allein aus eigener Kraft nicht gut zu sein. Wahres Menschsein besteht wie eine »Ellipse« wesentlich aus zwei Brennpunkten, komplementären Polen. Dies sind zuerst Gottes- und Selbsterfahrung, Spiritualität und Humanität, Theologie und Psychologie.

Authentische Selbsterfahrung erschließt echte Transzendenzerfahrungen, umgekehrt ermöglicht gnadenhafte Gotteserfahrung eine spirituelle, vertiefte Selbsterfahrung. Humanistische Bildung bereichert den religiösen Erfahrungshorizont, umgekehrt erweitert spirituelle »Weisheit« die Humanität um ihre geistliche Dimension. Jede tiefere Erfahrung von Vertrauen, Liebe, Schuld, Befreiung etc. enthält ein spirituelles Moment, berührt die Gottesbeziehung des Menschen. Zugleich gewinnen spirituellen Erfahrungen in Gebet, Meditation oder Liturgie ihre beglückende Eigenart im Medium der persönlichen Biografie, Lebenserfahrung und Bildung. Transzendenzerfahrung, Vertrauen auf Gott, Hingabe an seine Weisheit ist kein fremder Zusatz zum Menschsein, sondern Erfüllung der Humanität.

Wahres Menschsein ist wie ein offener »Kreis« mit einem zentrierenden Mittelpunkt (Geist) und beständig sich weitenden äußeren Horizont (Leben). Die innere Geisteshaltung (Spiritualität) durchgeistigt die äußere Lebenswirklichkeit, umgekehrt bereichert die Vielfalt der menschlichen Lebenserfahrungen (Humanität) die Gotteserfahrung, Innerlichkeit. Spirituelle und humane Bildung sind ein Ganzes, gehören zusammen. Ihre Synergie macht Geistliche Selbstführung und Begleitung anderer erst individuell fruchtbar: „Je weiter der Umkreis geistlicher Führung in die Humanwissenschaften hineinverlegt und je mehr die Gemeinsamkeiten des Geistes unter Menschen einbezogen wird, desto genauer wird auch die persönliche Mitte der geistlichen Führung getroffen, desto wirksamer spricht Gottes Geist zum Menschen.“ (J. Sudbrack).

»Christliche Spiritualität«, ihr geistliches Bildungsideal, umfasst eine geprägte Weisheitstradition, mystische Überlieferung, meint nicht beliebige Esoterik. Ihr Zentrum bildet die »Nachfolge Christi« (imitatio Christi), gläubige Annahme des Evangeliums. Sie ein spiritueller Lebensweg, keine Art „Wellness-Spiritualität“, aus der selektiv nach Belieben ausgewählt werden kann. Eine Patchwork-Mentalität führt zu keiner umfassenden Persönlichkeitsbildung, ihr fehlt die verbindliche Beziehung. Spirituelle Bildung meint immer geistige „Durchbildung“ der ganzen Person mit Leib und Seele, Streben nach Glaubensreife, vollkommener Liebe, Vortrefflichkeit im Beruf, kontemplativ-aktiven Haltung. Geistliches Leben (vita spiritualis) formt den Glauben, bildet die geistliche Persönlichkeit. Medium aller Reform in Kirche und Gesellschaft ist der geistliche, humane Mensch.

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Über den Autor:

Pfr. Andreas Schönfeld ist Geistlicher Rektor im LWH. Er verfügt über Erfahrungen aus der Pfarrpastoral und Exerzitienarbeit. Pfr. Schönfeld war von 2005 - 2013 Chefredakteur von "Geist und Leben" - Zeitschrift für Christliche Spiritualität. Mehr Informationen zu Pfr. Schönfeld finden Sie hier.