Kita-Pflicht - und alles wird gut?

Am 17.10.2022 veröffentlichte das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) den Bericht zum Bildungstrend 2021 – mir desaströsen Ergebnissen. Gut 18 Prozent der deutschen Viertklässler*innen erreichen laut des Berichts im Bereich des Zuhörens beispielsweise nicht die Mindeststandards, bei der Rechtschreibung sind es sogar 30 Prozent. Und obwohl sich dieser Negativtrend bereits seit etwa 10 Jahren abzeichnet, ist der Aufschrei, wie schon im Jahr 2000 bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA- Studie, groß. Diverse Forderungen werden laut und auch die schon vielfach diskutierte Kita-Pflicht rückt wieder in den Fokus. Der Gedanke scheint naheliegend – je früher Kinder Zugang zu Bildung haben, desto positiver wirkt sich das auf ihre Entwicklung aus. Bedeutet das aber im Umkehrschluss, dass einfach nur alle Eltern verpflichtet werden müssen, ihre Kinder ab einem bestimmten Alter in eine Kita zu bringen, um das Bildungsniveau zu erhöhen? Sollte es wirklich so einfach sein?

Fakt ist, dass in Deutschland zum Kita- Jahr 2023/2024 rund 385.000 Kita-Plätze fehlen[1]. Ebenso fehlen laut Deutschem Kitaverband bereits jetzt 100.000 Erzieher*innen, bis zum Jahr 2023 könnte dieser Mangel auf 230.000 steigen[2]. Das Personal, welches aktuell in den Kitas verfügbar ist, ist vielerorts völlig überlastet, der Krankenstand ist hoch. Erzieher*innen bekommen immer noch häufig, trotz des Fachkräftemangels, nur befristete Arbeitsverträge und es wird in Kauf genommen, dass nach zwei Jahren und/ oder drei Verlängerungen das Beschäftigungsverhältnis endet. Andere Fachkräfte verlassen Kitas, um woanders unter besseren Bedingungen (und mit besserer Bezahlung) zu arbeiten. Was bringt also eine Kita-Pflicht, wenn es keine Plätze und kein ausgebildetes Personal gibt, um die Kinder zu betreuen?

Seit dem 1. August 2013 hat in Niedersachsen jedes Kind ab 12 Monaten einen Anspruch auf einen Kita-Platz. Wo sich dieser Platz jedoch befinden darf, ist nicht festgelegt. Im Niedersächsischen Kindertagesstättengesetz[3] ist lediglich unter §4 Absatz 7 Satz 1 zu lesen, dass „die Förderung von Kindern mit und ohne Behinderung (…) möglichst ortsnah erfolgen“ soll. Was aber „möglichst ortsnah“ bedeutet, ist Auslegungssache. In Rheinland- Pfalz hingegen hat das Oberverwaltungsgericht 2019 geurteilt, dass ein Kita-Platz, der innerhalb 30 Minuten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden kann, für Eltern durchaus zumutbar ist[4]. Gerade in ländlichen Bereichen ist aber der öffentliche Personennahverkehr häufig mangelhaft bis gar nicht ausgebaut, so dass es unmöglich ist, den Weg zu einer weiter entfernten Kita mit Bus oder Bahn zu bestreiten. Für Familien, die ein oder mehrere Fahrzeuge besitzen, mögen diese Kita-Plätze erreichbar sein. Familien ohne Auto können diese Plätze aber nicht annehmen und haben somit auch kein Anrecht mehr auf einen anderen Betreuungsplatz, da ihnen ja einer zur Verfügung gestellt wurde und sie ihn abgelehnt haben. Was bringt also eine Kita-Pflicht, wenn die Kitas für die Familien nicht erreichbar sind?

Laut des Berichts zum Bildungstrend 2021 fallen die Ergebnisse bei Kindern aus Familien mit Zuwanderungshintergrund sowie aus sozial benachteiligten Familien besonders schlecht aus. Diesen Gruppen fällt der Einstieg in das Bildungssystem erwiesenermaßen besonders schwer. Zugewanderten Eltern ist das System „Kita“, wie es in Deutschland praktiziert wird, häufig aus ihren Heimatländern unbekannt und es ist ihnen nur schwer möglich, niedrigschwellige Informationen darüber zu bekommen. Sie verstehen nicht, was ihr Kind in der Kita soll und melden es dementsprechend auch nicht an. Oftmals ist es aber auch so, dass die Eltern ihr Kind gerne in einer Kita anmelden würden, aber an bürokratischen Hürden scheitern. Das beginnt schon bei der Frage, welche Kitas es denn überhaupt gibt und welche die Richtige für das jeweilige Kind ist. Derartige Informationen sind in den meisten Fällen nur auf Deutsch und dann auch nicht in einfacher Sprache zu bekommen, so dass vor allem frisch Zugewanderte sie häufig nicht verstehen können, weil sie ihr Sprachniveau übersteigen. Hat die Familie sich doch informieren können und eine oder mehrere Kitas ausgesucht, bereitet der Anmeldeprozess oft große Probleme. Besonders digitale Anmeldeverfahren stellen sowohl zugewanderte als auch sozial benachteiligte Menschen vor eine große Herausforderung, da sie häufig so komplex sind, dass diese sie nicht ohne Hilfe bedienen können. Aber auch eine persönliche Anmeldung in der jeweiligen Kita ist aufgrund der Sprachbarriere häufig sehr schwierig.

Hat es dann doch mit der Anmeldung des Kindes in der Kita geklappt, wartet die nächste Hürde: das Ausfüllen der Kita-Verträge. Diese bestehen aus diversen Zetteln, von der Datenerhebung über die Abfrage von Impfstatus bis hin zu Informationen zu DSGVO und dem jeweils gültigen Waffenerlass. Viele Familien sind mit einer derartigen Zettel- und Informationsflut völlig überfordert, schaffen es nicht, die Verträge fristgerecht auszufüllen und zurückzugeben und verlieren ihren Kita-Platz häufig wieder. Manchmal scheitert auch die Eingewöhnung, weil Familie und Fachkräfte aufgrund der Sprachbarriere nicht auf einen Nenner kommen und entweder die Familien abbrechen oder die Verträge seitens der Kita wieder gekündigt werden. Was bringt also eine Kita- Pflicht, wenn Familien, die ihre Kinder eigentlich in einer Einrichtung betreuen lassen möchten, die Hürden, die ihnen das System baut, nicht bewältigen können?

Ist es nicht vielmehr so, dass das System so verändert werden muss, dass alle Familien in Deutschland, egal welcher Abstammung sie sind und welchen sozioökonomischen Status sie haben, überhaupt die Möglichkeit haben, ihre Kinder in einer Kita anzumelden? Wenn es genügend wohnortnahe, gut zu erreichende Kita-Plätze in gut ausgestatteten Kitas mit ausreichend gesundem, vernünftig entlohntem Personal gibt und die Bürokratie soweit heruntergeschraubt wird, dass niemand bereits an der Anmeldung scheitert, brauchen wir vielleicht keine Kita-Plicht mehr. Denn dann kommen die Familien von ganz alleine.

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[1] www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2022/oktober/2023-fehlen-in-deutschland-rund-384000-kita-plaetze

[2] www.deutscher-kitaverband.de/fachkraeftemangel-wirksam-bekaempfen/

[3] www.nds-voris.de/jportal/portal/t/jdm/page/bsvorisprod.psml

[4] ovg.justiz.rlp.de/de/startseite/detail/news/detail/News/anspruch-auf-zumutbaren-betreuungsplatz-in-kindertageseinrichtung-in-mainz/

 

 

 

Über die Autorin:

Eva Peters ist Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin. Im LWH ist sie Studienleiterin im Bereich Frühpädagogik. Mehr Informationen zu Frau Peters finden Sie hier.