Reisen bildet - und stiftet Frieden?

Bereits Goethe stellte fest, dass reisen eine großartige Form der Weiterbildung ist, als er 1795/6 behauptete: „Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen!“ Auch wenn sich der Inhalt von Goethes Werk “Wilhelm Meisters Wanderjahre” nicht eins zu eins auf heute übertragen lässt, bleibt der Kontext bestehen: reisen bildet.

Möglich sind solche Lernerfahrungen durch das europäische Bildungsprogramm Erasmus+. Die Förderung der europaweiten Zusammenarbeit in allen Bildungsbereichen ist ein wichtiges Anliegen der Europäischen Union und das Ludwig-Windthorst-Haus ist seit 2017 Kooperationspartner in verschiedenen Leitaktionen. Das Eintauchen in ein anderes Land und damit in eine andere Kultur geschieht dabei jenseits des Hotelzimmers beim Austausch mit Kolleg*innen des jeweiligen Landes. Einladungen ins Ministerium oder ins Rathaus sind ebenso wie Teilnahmen an lokalen Bildungskonferenzen oder der Empfang beim Botschafter kein typisches Touristenprogramm. Und da kann es passieren, dass 2.400 km von der Heimat entfernt ein Gespräch mit dem deutschen Bundespräsidenten über das finnische Bildungssystem stattfindet. So geschehen 2018, als eine Gruppe von Lehrkräften zeitgleich mit Franz-Walter Steinmeier in Finnland war und sich beim offiziellen Empfang der Stadt Oulu über die gemachten Erfahrungen austauschen konnte.

Für mich sind es oftmals diese kleinen Begegnungen, die einen Aufenthalt im Ausland nachhaltig wirken lassen. Es ist schön, wenn der während einer Lernreise entstandene Kontakt auch danach fortgesetzt wird und z.B. Schüler*innen aus Griechenland und Deutschland gemeinsame Videokonferenzen durchführen. Durch den Besuch verschiedener Bildungseinrichtungen wird ein ganzheitliches Bild vermittelt, aus dem sich ganz neue Fragestellungen ergeben. Hätten Sie beispielsweise gewusst, dass die schulische Bildung der Kinder in Griechenland einen so hohen Stellenwert hat, dass Eltern viel Geld investieren und dafür auf Urlaub verzichtet wird und die Großeltern hierfür ihre Rente investieren? Oder dass in Finnland ganztägige Betreuung von Kindern erst von langsam wachsender Bedeutung ist? Bereits Kinder im Grundschulalter gehen nach Schulschluss mittags allein nach Hause und organisieren ihre Freizeit eigenständig. Ebenso sind es selbstgemachte Erfahrungen, die mich beindruckt haben: Nach 20 Minuten in einer griechischen Unterrichtsstunde hatte ich Kopfschmerzen. Ich konnte weder etwas verstehen noch die Stimmungen ableiten. „So müssen sich neu in Deutschland Angekommene im Unterricht fühlen“; habe ich die Erfahrung für mich zusammengefasst.

Ebenso beeindruckt hat mich der Besuch eines Englischkurses auf der Insel Zypern. Strand, Sonne und gutes Essen, und damit nicht der schlechteste Ort für eine Weiterbildung, ist vermutlich ihr erster Gedanke. Was ist daran so spannend, fragen Sie sich? Die Lernreisen finden nicht in den typischen Touristenorten statt und Lernen erfolgt häufig jenseits der Unterrichtsstunden. War Ihnen bewusst, dass Zypern ein bekannter Zufluchtsort für russische Kriegsgegner ist? Bereits nach der Ankunft in Limassol fällt auf, dass es einige Geschäfte, Restaurants und sogar eine Zeitung mit kyrillischer Schrift gibt. Denn auch das ist Zypern: Bis 2020 gab es das in Europa sehr umstrittene Programm „Goldenes Visa“ oder „Goldener Pass“, welches Ausländer*innen im Gegenzug zu millionenschweren lokalen Investitionen die zypriotische Staatsbürgerschaft gewährte – und somit auch die Eintrittskarte nach Europa. 

Politisch sind hier viele Fragen zu stellen, denn nicht immer ist geklärt, woher das Geld stammt und in welchen Verbindungen diese Finanziers zu Putin stehen. Gleichwohl sind diese Fragestellungen im Klassenraum irrelevant. In der Schule sitzen Mitschüler*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine an einem Tisch. Sie vereint das gemeinsame Ziel: das Erlernen der englischen Sprache. Jedoch sind die Motivationen unterschiedlich: Nikita ist vor seiner Einberufung geflohen, Serge will sein Studium außerhalb der Ukraine fortsetzen, Natascha arbeitet bereits auf Zypern und will ihre beruflichen Chancen erhöhen. Einige arbeiten remote, andere haben Familien, die ihnen das Leben auf Zypern ermöglichen - und für wieder andere ist das Lernen der Sprache ein guter Zeitvertreib.

Die Fotografie zeigt ein Denkmal für Frieden und Toleranz in Limassol. Das Kunstwerk bezieht sich auf den Artikel 3 der UN-Menschenrechte und verdeutlicht die Bedeutung von Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Hier wird die Idee von Erasmus+ sichtbar – auch wenn diese Länder nicht an dem Austauschprogramm der Europäischen Union partizipieren. Gemeinsam an einem Tisch zu sitzen, zusammen zu lernen und der kulturelle Austausch jenseits der großen Politik ist vermutlich die festigendste Form der Friedensbildung. Daher sind Erasmus+ Lernaktivitäten Bestandteil des Bildungsprogrammes für Lehrkräfte.

Lernarchitektur in Finnland, Sprachsensibilität in Athen, Transition in Österreich oder doch ein Sprachkurs? Der Rucksack ist nach einer solchen Lernaktivität immer reich gefüllt: Mit neuen Ideen für den Unterricht, mit vielschichtigen Impulsen auf der Ebene der Schulgestaltung oder mit konkreten Impulsen des Zusammenarbeitens mit den Kindern einer Schule im Ausland. Reisen bildet nicht nur die reisende Person, sondern auch die Schüler*innen profitieren hiervon. Und daher werden auch zukünftig verschiedene Erasmus+Lernaktivitäten im Ausland stattfinden, damit wir in Europa noch ein Stück näher zusammenrücken und gemeinsam lernen, Schule und die Zukunft für unsere Kinder noch besser und friedvoller zu gestalten.

 

 

 

 

Über die Autorin:

Judith Hilmes verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung im Schuldienst und aus dem Studienseminar. Im LWH ist sie als Bildungsmanagerin und Fortbildungsverantwortliche im Kompetenzzentrum für Lehrkräftefortbildung aktiv. Mehr Informationen zu Frau Hilmes finden Sie hier.