Müller machte deutlich, dass das Grundgesetz keine Staatsreligion kenne: "Das Grundgesetz ist neutral gegenüber allen Regionen und allen weltanschaulichen Kenntnissen. Sie werden alle gleichermaßen geschützt. Das wird schon deutlich in der Präambel. Was bedeutet das? - Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und seinen Menschen, heißt es da. Nicht im Namen Gottes. Und das macht deutlich, dass dieser Gottesbezug keine Anrufung Gottes ist. Das macht deutlich, dass man Gott nicht in Haftung nimmt für das, was die Menschen da gemacht haben. Sondern es ist eine Benennung. Der christliche Gott wird benannt als eine Institution, als eine Instanz, der man sich verpflichtet fühlt, eine Instanz, die deutlich macht, dass das Grundgesetz nicht das Letzte ist. Dass das Grundgesetz nicht göttlichen Ursprungs ist. Dass Gott nicht dieses Grundgesetz gegeben und legitimiert hat. Dass es sich aber an christlichen Werten orientiert. Der Gottesbezug im Grundgesetz ist, so sagen es die Verfassungsjuristen, eine Demutsformel. Es ist eine Formel, die der Verabsolutierung des Staates entgegensteht. Es ist eine Formel, die sich bekennt zur Trägekraft des christlichen Glaubens und der damit verbundenen Wertüberzeugungen im Grundgesetz, ohne dass damit eine Bevorzugung der christlichen Religion verbunden ist."
Peter Müller ging auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ein und erläuterte, dass ganz bewusst eine werteorientierte Regelung der erlebten Geschichte entgegen gestellt werde sollte. Und die christlichen Werte drängten sich dabei als Gegenpol zum menschenverachtenden Nationalsozialismus geradezu auf: "Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten aus der Geschichte lernen. Sie hatten ein klares Leitbild. Und dieses Leitbild war schon auf der Ebene der Verfassung garantieren herzustellen, dass sich die zwölf unsäglichen Jahre des tausendjährigen Reiches in unserem Land nicht wiederholen dürfen. Juristen nennen das die gegenbildlich identitätsstiftende Bedeutung des Nationalsozialismus für das Grundgesetz. Man wollte sicherstellen, schon in der Verfassung, dass der Ungeist der Nationalsozialisten in diesem Lande sich nicht mehr bahnbrechen kann."
Müller brach die abstrakte Wertediskussion aber auch immer wieder in ganz konkrete tagespolitische Fragen herunter und machte Konfliktfelder auf: Auf Folterverbot und den Fall "Daschner", der einen Vedrächtigen drohte zu foltern, um das Leben eines Kindes zu retten. Oder das Dilemma ob ein vollbesetztes Passagierflugzeug abgeschossen werden darf, dass entführt wurde und Kurs auf ein Atomkraftwerk nimmt. Oder die Fragen von Abtreibung und Sterbehilfe. Letztlich auch die Frage von Religionsfreiheit und religiösen Bekenntnissen in staatlichen Einrichtungen, etwa die Kruzifix-Diskussion. Er schloss aber mit einem Apell, der ihn als elder-statesmen würdigte: "Ich würde mir wünschen, dass wir ein bisschen mehr in dieser Gesellschaft über christliche Werte diskutieren, über Werte auch aus anderen philosophischen Traditionen und auf dieser Grundlage dann politische Entscheidungen treffen. Es wäre allemal besser, als dieses chaotische, tagespolitische Hin und Her, das wir allzu oft erleben und das sicherlich auch ein Quell für die Verdrossenheit vieler Bürgerinnen und Bürger an der Politik in unserem Staat ist."
Zuvor hatte der Vorsitzende der Stiftung, der Landtagsabgeordnete Christian Fühner, bezeichnete das Grundgesetz als "das konstitutionelle, aber auch zugleich das moralische Fundament der heutigen Bundesrepublik". Das sei besonders wichtig in einer Zeit, in der "unser Zusammenhalt, unsere gesellschaftlichen Normen und auch die christlichen Werte herausgefordert sind wie lange nicht". Das Grundgesetz schütze hier unsere Gesellschaft und unsere Werte besonders. "Der Gottesbezug gleich zu Beginn in der Präambel spiegelt die christlichen Werte wider, die bei der Entstehung unserer Verfassung in der damaligen Zeit eine Rolle gespielt haben. Womit am Ende auch ein moralischer Anspruch in diesem Grundgesetz entstanden ist. Und dadurch bekommt das Christentum eine Bedeutung in der Gesellschaft und in der politischen Verantwortung zugeschrieben. Ein Christentum, was das Land geprägt hat und deren Kraft und Bedeutung wir heute vielfach auch in der Ludwig-Windthorst-Stiftung diskutieren. Zumindest die Frage sei man erlaubt, ob man, wenn man heute eine neue Verfassung schreiben würde, diesen Gottesbezug wieder ins Grundgesetz schreiben würde. Und darüber können wir vielleicht heute Abend mal diskutieren."
Dieser Aufforderung kamen nach dem Vortrag von Müller der LWH-Studienbeauftragte Dr. Jochen Reidegeld, die Stiftungs-Stipendiatin Hanna Ehlers und Peter Müller unter der Moderation des Direktors des Ludwig-Windthorst-Hauses, Marcel Speker, nach. Müller verwies in dem Zusammenhang darauf, dass im zeitlichen Kontext der Wiedervereinigung auch ein Streichen des Gottesbezugs aus der Präambel diskutiert worden sei, aber keine Mehrheit gefunden habe. Reidegeld machte deutlich, dass die christlichen Werte, die das Grundgesetz geprägt haben, letztlich für alle Menschen, die hierhin kommen, anschlussfähig sein müssten. Ehlers betonte, dass die christlichen Werte unter dieser Überschrift gerade in der jüngeren Generation nicht mehr so präsent seien - was durch die Probleme und Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche verstärkt werde. In diesem Zusammenhang warb Müller für eine Differenzierung zwischen "C" und "K" - also zwischen christlich und katholisch.
Begonnen hatte die Jahrestagung mit einem Gottesdienst, den Domkapitular Dr. Martin Schomaker und Pfarrer Dr. JochenReidegeld gemeinsam in der Kapelle des Ludwig-Windthrost-Hauses zelebriert haben. In seiner Predigt machte Reidegeld deutlich, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt eng damit verknüpft sei, miteinander zu kommunizieren: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold - aber Zuhörern ist Platin".